Typische Märchenzüge
Das Märchen hat drei Teile.
1. die Anfangssituation
a. Mangel = jemand braucht etwas
b. Bosheit = jemand tut etwas Schlechtes
2. der Weg des Helden
a. Probe = Test: der Held muss eine gefährliche Probe bestehen
b. Rat oder Hilfe = dem Helden wird Hilfe geleistet, Tipps gegeben oder . . .
c. Zaubermittel = man beschenkt den Helden mit etwas Magischem
3. die Lösung = die Antwort
a. Rettung (von einem anderen oder von sich selbst; letzteres der Fall bei Dorothy)
b. Hochzeit (besonders typisch für die russischen Märchen, die Propp erforscht hat)
c. Belohnung oder Krönung (auch in Russland und anderswo typisch)
d. Strafe des Bösen (die Guten werden belohnt; die Bösen müssen bestraft werden)
Märchenfiguren und Märchenländer sind meist anonym, das heißt, die Charaktere bleiben unentwickelt (es gelingt dem Helden, ohne dass er weiß, was er macht) und eindimensional (zum Beispiel: der kluge Hans, das tapfere Schneiderlein, und keiner weiß, wie Rotkäppchen wirklich aussieht) und die Länder, in denen Märchen stattfinden, sind keine uns bekannten Länder (zum Beispiel: der Wald, aber welcher Wald?).
Die Farben spielen eine sehr wichtige Rolle in Märchen. Da wir nicht mal wissen, wie Märchenhelden und Märchenländer aussehen, versteht sich von selbst, dass Märchen die Farben nicht zufällig erwähnen. Merke wohl: folgendes Kommentar wollen wir nicht übertreiben. Dass Schneewittchen schwarzes Haar hat, bedeutet nicht, dass es böse ist.
Weiß = die Reinheit, das Göttliche
Schwarz = das Böse, der Tod
Rot = das Blut (und daher die Pubertät), Feuer und Flammen (und daher die
Leidenschaft), die Liebe
Grün = die Natur, das Leben
Gold = die Vollkommenheit (das Perfekte)
Die Zahlensymbolik ist sehr wichtig.
2 = die Polarität (das Gute und das Böse, das Leben und der Tod).
3 = die Vollkommenheit (das Perfekte). Zweimal geht es schief, aber das dritte
Mal klappt es.
7 = auch eine positive Zahl. Man denke an die sieben hilfreichen Zwerge, die
dem Schneewittchen das Leben gerettet haben.
12 = auch sehr wichtig, was vielleicht aus der Religion stammt: die zwölf Stämme Israels und die zwölf Jünger Jesu.
Wiederholungen kommen häufig vor. Die Handlung ist meist sehr einfach und wird oft dreimal wiederholt, oft sogar wortwörtlich. Deshalb sind Erzählformeln sehr wichtig: "es war einmal", "sich auf den Weg machen", "und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch." Märchen stammen aus der mündlichen Überlieferung und Wiederholungen bieten dem Erzähler eine nützliche Gedächtnishilfe an.
Bemerkungen:
Die oben angeführten Züge basieren zum Teil auf Seiten 16/17 von Jugendscala 12, Januar/Februar 1986 aber gehen darüber hinaus.
Besonders zu empfehlen in diesem Kontext sind die Werke des Schweizer Märchenforschers Max Lüthi, die sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch erhältlich sind. Leicht zugänglich--auch für Anfänger--ist sein Buch Es war einmal (Once upon a Time), deutsche Originalausgabe 1970 erschienen. Auch ganz nützlich ist Die Morphologie des Märchens (Morphology of the Folktale) von Vladimir Propp, russische Originalausgabe 1928 erschienen. Interessiert man sich besonders für die mündliche Überlieferung traditioneller Erzählformen, muss man sich an ein Werk wenden: The Singer of Tales (Der Sänger erzählt) von Albert Bates Lord, englische Originalausgabe 1960 erschienen.